Nicht die Krise, sondern ihre Lösungen sind wichtig

F. Malik am Sonntag, 14.08.2011 um 21:14 Uhr
« Vorheriger Artikel / Übersicht / Nächster Artikel »

Nicht die Krise, sondern ihre Lösungen sind wichtig

Heute gab es hochinteressante Postings, zum Teil über vertrackte technische Fragen an den Finanzmärkten, wie etwa Leerverkäufe. Diese Fragen sind allerdings nicht viel anders als schon vor 40 Jahren, als ich meine ersten Trades machte, und bis heute ist man nicht klüger geworden. Schon in den 1930er musste J. D. Rockefeller sich vor dem US-Senat verteidigen weil er angeblich mit Leerverkäufen die Börse manipuliert habe. Herausgekommen ist dabei nichts. Aber jede Krise braucht ihre Sündenböcke.

Die Krise selbst ist aber nicht einmal das Entscheidende, sondern ihre Lösungen sind es. Ich habe heute Morgen skizziert, wie es laufen wird, wenn die alten Denkweisen und Massnahmen weiterhin eingesetzt werden. Bis heute hat ja so gut wie keine dieser Massnahmen, immer vollmundig vorgetragen, funktioniert. Die Schulden haben teilweise die Hände gewechselt, aber es doch nichts nennswert reduziert worden, weder in Griechenland, noch Spanien, Portugal oder USA. Die wirklichen hard facts sind unverändert. Und denken Sie immer daran, was als Krise in den Medien steht, ist ein Teil einer viel grösseren Transformation. Man muss das Ganze sehen, sonst kann man auch die Krise nicht verstehen, geschweige, dass man Lösungen dafür hätte.

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

 Verbleibende Zeichen

9 Kommentare

  1. A.I.

    Ich bin von der Ausbildung her Naturwissenschaftler und habe daher zwar viel Neugier für wirtschaftliche Zusammenhänge, aber ebenso großes Unwissen.

    Seit mehr als 5 Jahren verfolge ich Ihre Kolumnen und später den Blog und war immer angetan von der Bodenständigkeit und Schlüssigkeit Ihrer Argumentationen, durchaus im Kontrast zu manchen anderen, die über Wirtschaft publizieren.

    Ihre Ausführungen zur Syntegration finde ich wirklich ganz erstaunlich. Mein Wissensstand ist der, dass mentale Konzepte im Gehirn physisch repräsentiert sind. Das erklärt, warum Lernprozesse oft relativ langsam verlaufen: es braucht eben seine Zeit, bis sich die neuen neuronalen Verbindungen physisch manifestiert haben.

    Wenn es so ist, dass vermöge einer Syntegration sehr schnell wirksame Lösungen erarbeitet werden können, muss doch folgende Voraussetzung erfüllt sein: Das zur Lösung notwendige Wissen ist bereits in den Köpfen der Verantwortlichen vorhanden, aber verteilt und fragmentiert. Niemand hat das komplette Bild.

    Durch Syntegration ermöglicht man es den Teilnehmern, ihre Wahrnehmung vom Problemkomplex zu vervollständigen. Dadurch, dass man auf einmal neue Aspekte sieht, kommen völlig neue Lösungsideen, die man ohne (möglichst) vollständiges Wissen einfach nicht haben kann.

    Durch Syntegration erreicht man also eine „Neuverschaltung“ der verfügbaren Information. Trifft das den Kern der Sache? Um einfaches „Brainstorming“ wird es sich höchstwahrscheinlich nicht handeln…

    • Fredmund Malik

      Was sie sagen, trifft den Kern für diesen einen Aspekt recht gut. Über das schon vorhandene Wissen in den Einzel-Köpfen hinaus entsteht aber noch weit mehr als ein Gesamtbild, denn das Wissen vernetzt sich auch in sich selbst, es entstehen ausserdem über die Dauer der MSS hinweg neue Assoziationen in allen Köpfen, die sich ihrerseits wiederum vernetzen, und nach dem Gesetz der Emergenz entsteht sogar ganz Neues, so wie aus H und O bei richtiger Vernetzung Wasser entsteht, das vollständig andere Eigenschaften hat als seine chemischen Elemente – eines der Naturgesetze der Evolution. Mit herkömmlichem Brainstorming hat das in der Tat so gut wie nichts mehr zu tun, obwohl rein äusserlich manches danach aussehen mag. Schreiben Sie mir doch bitte, was Ihr naturwissenschaftliches Fach ist.

      • A.I.

        Was Sie da beschreiben, klingt mir recht plausibel. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Bildung neuer Assoziationen, und insbesondere die Rückkopplung der neuen Assoziationen mit den alten eine quasi explosionsartige Vermehrung der Lösungsmöglichkeiten in den Köpfen nach sich ziehen kann. Hoffentlich werde ich einmal eine solche Syntegration selber erleben können, das würde mich sehr interessieren.

        Ich habe Physik studiert mit dem Schwerpunkt Theorie der kondensierten Materie. Ein hochfaszinierendes Thema. Eisenatome kondensieren sich zu einem Stück Stahl, das so völlig andere Eigenschaften hat als eine Ansammlung von Eisenatomen. Das Beispiel mit dem Wasser trifft es genauso gut. Emergenz ist ein Thema, das auch in der Physik heiß diskutiert wird, trotz der reduktionistischen Grundlagen.

        Entgegen Ihrem Wirksamkeitsprinzip „Konzentration auf Weniges“ habe ich auch in der Kognitiven Psychologie gearbeitet. Dort ging es um Suchtverhalten. Privat habe ich viel über Kognition nachgedacht, denn in meinem Studium konnte ich manche Sachen sehr leicht und andere nur sehr schwer verstehen. Was war also der Unterschied? Kurz gefasst bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass man Dinge nur deswegen schlecht versteht, weil einem zu viele Puzzlestücke fehlen.

        Daher habe ich lange überlegt, was wohl die Aspekte sein könnten, die Syntegrationen so wirksam macht (auch nach Konsultation Ihres Buches „Strategie“), und Ergänzung von Puzzlestücken war also meine Haupthypothese.

        Es ist sehr interessant zu erfahren, dass es darüber hinaus geht.

        • Fredmund Malik

          Emergenz ist eines der Naturgesetze. Vermutlich hat es – wie auch Ihr Beispiel zeigt – viel breitere, vielleicht sogar allgemeine Gültigkeit, als nur in der Biosphäre.
          Warum „entgegen“ dem „Konzentrationssprinzip“? Schreibfehler?
          Fehlende Puzzlestücke: Manchmal fehlen Stücke, richtig. Manchmal hat man aber auch zu viele davon. 10 Schritte zurücktreten, um das Ganze zu verstehen, ist eines der noch zu wenig verstandenen methodischen Prinzipien.

        • M.W.

          Könnten etwas mehr als 1000 Zeichen werden Sorry.

          Sehr interessant A.I., ich kann beruflich wie privat mit zunehmender Häufigkeit die Erfahrung machen, dass gerade Menschen aus den „klassischen“ (diese derzeit erweiternd) Naturwissenschaften einen offenbar leichteren Zugang zu den Themen der Kybernetik, Bionik, … finden. Wohlmöglich liegt es daran, dass die Geheimnisse der Strukturbildung, dessen Neuanpassung an Umwelteinflüsse oder wie in Ihrem Fall auf anorganischer Ebene, dieselben Muster etablieren, um erfolgreich zu interagieren. Das Ikosaedermodell (ein mögliches Syntegrationsmodell – falls ich richtig informiert bin) ist daher für Sie nachvollziehbar. Darüber müssen Sie nicht großartig nachdenken, wie ich glaube.

          Weiterhin ansprechend Ihre Erklärungen zu Wirtschaftsfragen lieber Herr Malik und ebenfalls Fragen und Antworten der Forensteilnehmer/innen (Kredite, Einlagensicherungen, …).

          Herr Stefan Ludwig.

          Nun, die Ideen DVD, Onlinemedien usw. existieren beim MZSG bereits, so wie diese ebenfalls in anderen Einrichtungen des privaten und öffentlichen Sektors vorhanden sind. Im persönlichen Kontakt lässt sich meist das größte Verbreitungspotential entdecken. Letztendlich sind die Erfolge dann ein „globaler“ Umsetzungsfaktor, wobei das nicht schnell zu machen ist. In vielen Firmen existieren Ideen Kataloge füllend. Befinden sich diese dann in Relation zu den umgesetzten Vorhaben, so wird es ein kleines Büchlein mit wenigen Seiten.

          Ich hoffe auf ein nun nachvollziehbares Gedankenexperiment. Als schlüssig gedachte Ansichten, selbst wenn wissenschaftlich erklärbar, haben nicht für jeden Menschen die gleiche Bedeutung. Wie weit beschäftigen sich die Leser denn mit einem Thema, was dem eigenen Erfahrungswissen nicht entsprungen ist? Der Weg über das reflektierende Erleben ist jedoch langfristig gesehen strukturbildender. Ein weiteres Beispiel bemühend. Ich schätze Herrn Helmut Schmidt. In einem seiner Bücher schrieb er mal sinngemäß, er würde nicht auf die Idee kommen andere Nationen zu belehren. Wie verhält sich beispielsweise Germany zu gewissen politischen Umsetzungsstrategien in der Volksrepublik China? Denken Sie darüber ruhig einmal näher nach. Welche „Überlegenheit“ veranlasst uns, darüber zu kritisieren? China schreitet in seiner Entwicklung ebenfalls voran, auf einem anderen Weg, ja …

          Oder ist das alles doch ganz easy? Entscheidet nicht auch die Einstellung? Obwohl ich es gern möchte, es sind mir nicht mehr Zeichen gegönnt. 😉

          Beste Grüße und viele Erfolge wünsche ich jedem reflektierenden Zeitgeist

          M.W.

          • A.I.

            Lieber M.W., vielen Dank für Ihre freundlichen Anmerkungen.

            Wenn man Physik macht, ist immer die Rede vom „physikalischen System“. Man unterscheidet begrifflich vom System, das man untersuchen will, und seiner Umwelt, mit der es wechselwirkt oder auch nicht.

            In jedem Fall benötigt man ein kognitives Konzept der systemischen Kausation, sonst kann man viele Dinge in der Physik nicht verstehen. Ein Beispiel für direkte Kausation: Ein Auto fährt in eine Wand, die Insassen sind verletzt. Das lernt jeder Mensch. Im Gegensatz dazu ist der Treibhauseffekt ein Beispiel für systemische Kausation. Ein Auto stößt CO2 aus, CO2 absorbiert Infrarotstrahlung, die von der Erde reflektiert werden. Strahlung ist aber die einzige Möglichkeit für die Erde, überschüssige Wärme wieder an den Weltraum abzugeben. Also heizt sich die Erde auf. Zugegeben, ein stark vereinfachtes Beispiel, was aber wegen der gebotenen Kürze nötig ist. Ohne systemisches Denken kommt man nicht besonders weit in den Wissenschaften.

            Inwieweit Menschen über Dinge nachdenken, die nicht ihrer Erfahrung entspringen, ist ganz unterschiedlich. Ich tue das ständig, weil ich neugierig bin und ich weiß, dass ich nicht lange genug leben werde, um alles selber zu erfahren.

            Der von mir sehr geachtete Helmut Schmidt hat in dem von Ihnen genannten Punkte völlig recht. Ich gebe die Frage an Sie zurück mit den Worten: Handelt es sich um Überlegenheit oder Überheblichkeit?

            Bedenken Sie: Niemals gibt es in der Natur irgend etwas geschenkt. Überlegenheit in einem Aspekt erkauft man immer mit Schwächen in einem anderen.

            Einen Supercomputer können Sie schlecht in die Tasche stecken, mit einem Smartphone schlecht das Erdklima simulieren.

            Ich hoffe, das war nicht zu lang.

  2. A.I.

    Übrigens ist das Erdklima ein hervorragendes Beispiel für ein System mit Rückkopplung. Erhöht sich die Erdwärme, kommt mehr im Meerwasser gelöstes CO2 in die Atmosphäre. Das führt zu einer Erhöhung der Erwärmung. Diese bewirkt einen Anstieg des CO2 in der Luft. …

    Sie sehen, dass zwei scheinbar voneinander unabhängige Systemgrößen sich nicht nur gegenseitig beeinflussen, sondern sich sogar aufschaukeln, weswegen Instabilitäten zu befürchten sind. Der Systemzustand kippt dann, und erfüllt nicht mehr seine ursprüngliche Funktion, Leben auf der Erde zu erhalten. Ein anfänglich kleines Ungleichgewicht führt zur kompletten Selbstzerstörung des Systems.

    Ich bin mir sicher, Herr Prof. Malik kann anknüpfend hierzu gute Beispiele aus der Volkswirtschaft bringen.

    • Fredmund Malik

      Es gibt „unendlich“ viele Beispiele. Sie sind Ergebnis angewandter Kybernetik. Eines dieser Beispiele ist in meinen Buch „Unternehmenspolitik und Corporate Governance: Wie Organisationen sich selbst organisieren“, mit dem ich das sich selbst zerstörende Shareholder-Value Prinzip modelliere. Von rund 80 Regelkreisen sind 95% aufschaukelnd. Daher war schon in den 1990er Jahren programmiert, dass dieses System explodieren oder kollabieren wird, wenn es nicht gelingt, eine der Regelkreise umzuprogrammieren. Längere Zeit hätte dies noch gelingen können. Wir haben aber auch umfassende Modelle über Städte, Regionen, den Auto- bzw. Gesamtverkehr, Universitäten, Unternehmen, u. v. a. mehr.

  3. M.W.

    Die Beispiele der Rückkoppelungen sind mir gut vertraut. Sie kennen die Thematik der positiven und negativen Rückkoppelungen, denn genau das kann die Natur nahezu perfekt. Ich vage die Hypothese, dass biologische sowie anorganische Systeme (entdeckte ich bei der intermetallischen Phasenbildung der Mikrotechnologie) mit Sicherheit ähnlich funktionieren, was nicht heißt die gleichen Funktionen erfüllend, es gibt aber eine Struktur. Als ich das entdeckte, war ich selbst erstaunt. Einziges Problem dabei Herr A.I. mit der derzeitigen Begrifflichkeit und dem Herangehen (auch dem wissenschaftlichen) ist kein weiteres, signifikantes vorwärts schreiten möglich. Ohne das jetzt ausdehnen zu wollen, unsere mathematische Symbolik behindert die weitere Erkenntnis. Danke für das Stichwort Emergenz. Es gibt kein eindeutig, so wie es kein weder gut noch schlecht gibt (daher Beispiel China), alles Begrifflichkeiten unseres Verstandes, unserer Erfahrung, unserer Wahrnehmung, unserer Erziehung, unseres Kulturkreises, unseres momentanen Wissensstandes, unserer „Beschränktheit“. Wir sind lernende Kinder. Schön, Sie sind noch neugierig. Vielleicht ist die Phänomenologie des Geistes, Georg Wilhelm Friedrich Hegel was für Sie.

    Überheblichkeit und Überlegenheit gehen nicht selten Hand in Hand.

    Ungleichgewichte sind der Gradmesser für Veränderungen, diese jedoch einen stabilen, vorläufigen Endzustand erreichen müssen. Ungleichgewichte vs. Gleichgewichte, Teilchen vs. Welle, usw. – dies beschäftigte mich mal ne Zeit. Dies näher zu erläutern, nun die 1000 Zeichen eben. 😉

    Denn es gibt in Wahrheit keine Widersprüche auf Makroebene, diese entstehen durch fehlendes Wissen in der Mikroebene. Dennoch Stellhebel bedienen, Knöpfe drücken, obwohl die Widersprüche noch nicht verstanden sind, führt in komplexen Systemen dann eben zur Systemzerstörung, wenn Sie verstehen was ich damit sagen möchte.

    Eine Optimierung von Teilbereichen eines Systems mit verbissener Genauigkeit durch zu führen (wir kennen alle die dafür angefertigten Statistiken, Reduktion würde hier viel bringen), isoliert im System zu betrachten bringt meist nichts. Beispiel, Volkswirtschaft (Börse ein Teil davon) – das Verbot von Leerverkäufen.

    Einen erfolgreichen Tag.